Vor einigen Jahren schlug ich ziemlich verzweifelt ein Buch* auf, dessen erstes Kapitel den Namen trägt „Du bist nicht dein Verstand“. Für mich war das eine revolutionäre Ansicht, ein bisschen provokant und unerhört. Beim Lesen haben sich meine Augenbrauen damals eng und ungläubig zusammengezogen: Hä?
Ich habe immer schon sehr viel gedacht. Mittlerweile sehe ich, dass mein Verstand oft gänzlich von mir Besitz ergriffen hat. Heute mache ich – meistens – bewusst von ihm Gebrauch, nämlich so, dass er mir nützlich ist. Bevor ich wichtige Entscheidungen treffe, gehe ich ins Vertrauen. Dorthin finde ich oft im Spazieren, im sehr genauen Beobachten der Natur, oder beim Klavierspielen. Ich lasse ab von meinen Gedanken und versinke in meinen Sinnen: sehen, riechen, hören... wow.
Es gibt mitunter Tage, an denen kommen mir Tränen der Dankbarkeit und Freude. Weil die Sonne ganz besonders durch mein Fenster scheint. Weil der Eisverkäufer extra nochmal Erdbeersoße obendrüber macht, ohne dass ich gefragt habe. Weil mir auffällt, wie schön Erpel wirklich sind. Weil mir auffällt, wie gut falscher Jasmin riecht. Weil mir falscher Jasmin überhaupt auffällt. Weil ich einen neuen Ausblick in die Ferne finde... Es ist genau genommen fast egal, was dann im Außen ist. Denn im Außen ist immer irgendwas. Ich bin in diesen Momenten besonders, nämlich besonders wach. Es ist nicht so, dass ich dann gar nicht mehr denke. Nur klarer und in größeren Zusammenhängen. In Zusammenhängen, die über mich selbst hinausgehen. And that is what the world needs now. Am besten von jedem von uns.
Diese Wachheit im Verstand und Verbundenheit im Gefühl, die will ich nicht mehr missen. Denn sie sind nicht nur wunderbar, sondern auch nötig. Die haben wir verdient, unser Gegenüber, der Planet. Die Natur hat uns mit scharfen Sinnen ausgestattet, lasst sie uns nutzen. Dazu gehört selbstverständlich auch der Verstand, aber ein Verstand ohne Herz, Bauch und Zirbeldrüse** findet schwerlich weise Lösungen.
Und ja, ich komme immer noch aus der Balance. Wir sind mitfühlende Wesen. Vielleicht ist es die Geschichte unserer Nächsten, die uns berührt, oder die von Menschen in großer Not, von der wir heute jeden Tag erfahren können. Mal sind es Gedanken an unsere eigene oder unser aller Zukunft. Und manchmal sind es einschneidende Ereignisse in unserem persönlichen Leben, die uns bis ins Mark erschüttern und verunsichern. Dann merken wir, wie klein und unbedeutend die Probleme waren, die uns davor geplagt haben. Irgendwann ist auch die größte Erschütterung überstanden, und womöglich tritt das nächste kleinere Problem in unser Leben, das unbeobachtet schnell monströse Ausmaße annehmen kann.
Dass Entspannung der natürliche, der Ur-Zustand ist, davon bin ich überzeugt. Und zwar weil er sich gut anfühlt. Sind Liebe, Vertrauen und Zuversicht unwahr, sind sie naiv, weil sie sich gut anfühlen? Wer hat uns gelehrt, dass Zweifel und Angst die Basis sein müssen, von der aus wir dem Leben begegnen und Entscheidungen fällen? Und warum?
Wir dürfen vertrauen, und wenn es in unseren dunkelsten Momenten nur das Vertrauen ist, dass unser Vertrauen irgendwann zurückkommen wird. Denn das wird es. Viele Dinge lehren uns mit Abstand Wertschätzung und Dankbarkeit für das Leben. Es ist im Schmerz schwer zu glauben und kaum tröstlich, aber wir können mit der Zeit eine Einstellung zu den Dingen entwickeln. Wenn wir begreifen, dass wir eine Entscheidung haben, haben wir schon so gut wie gewonnen. Es ist sehr gut möglich, dass wir dann diejenige Entscheidung treffen, die unser Leben reicher macht, tiefer, und bewusster. Die Entscheidung, wieder zu vertrauen, zu lieben, uns zu öffnen, vielleicht sogar nach jedem Schlag ein kleines bisschen mehr, ein kleines bisschen universeller. Bis wir irgendwann nicht mehr nur einer bestimmten Person vertrauen oder einem bestimmten Lebensplan, sondern in letzter Konsequenz dem Leben selbst, vielleicht dem Universum...
Vertrauen ist diejenige Entscheidung, die uns zur Liebe führt, die uns aufblühen lässt, die uns und allen um uns herum Raum gibt zu sein und auch mal Fehler zu machen. Vertrauen ist der Raum, in dem Ideen geboren werden, die unsere Welt verändern können. Vertrauen lässt uns Geduld haben, Durchhaltefähigkeit und Mut. Es ist in persönlicher und über-persönlicher Hinsicht eine sehr vernünftige Entscheidung und muss ganz und gar nicht blauäugig sein. Wir stehen nicht nur in unserem privaten Leben immer wieder vor Herausforderungen, sondern auch global vor großen Aufgaben, die uns eine Menge Kraft kosten werden und die wir nur als (Welt-)Gemeinschaft stemmen können. Je mehr wir uns im Vertrauen verwurzeln, desto mehr erkennen wir diejenigen, die aus Angst, Mangel und Gier agieren oder diese Gefühle in uns hervorrufen wollen. Und wir stoßen auf diejenigen, die unseren Weg teilen.
Zu der unerschöpflichen Quelle der Liebe und des Vertrauens in uns können wir immer finden und tun es oft genau dann, wenn wir dazu gezwungen sind. Wenn unsere Quellen im Außen versiegen, wenn uns die Umstände ohnmächtig machen, dürfen wir uns hingeben. Uns ergeben. In der Anerkennung unserer immerwährenden und wunderbaren Unperfektheit spüren wir, dass wir selbst der Reichtum sind. Wir sind die Liebe. Wir sind die Ewigkeit. Und wir haben so viel zu geben.
Wir sind Energie und alle verbunden. Wir können nicht verloren gehen, wir ändern nur unsere Form. Und die Antworten kennen wir schon vor unserem Verstand.
Viel Spaß beim Spazieren ❤
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*Eckhart Tolle, "Jetzt"
**Epiphyse, auch "das dritte Auge" genannt. Wird z.B. durch Meditation aktiviert.
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Sabrina (Samstag, 29 Juni 2019 22:57)
Ich danke dir, so schön und schlau beschrieben